Kern- und Erweiterungsbereich in GW - Helfen die bisher veröffentlichten Beiträge den Unterrichtenden bei der Konkretisierung ?

Christian Sitte

 
Lehrplan I Allgemeine Aussagen I Fachbezogene Aussagen I Hilfestellungen I Resümee I Literatur

 

1. Lehrplan:

Der Lehrplan 20001 - wir benennen ihn hier nach seinem Einführungsjahr - spricht bei den einzelnen Fächern erstmals von Kernbereichen und Erweiterungsbereichen. Dabei verlangt er, dass die im Abschnitt Kernbereich (KB für HS und AHS wortident) angeführten Lehr-planvorgaben verbindlich sind (also damit k e i n Rahmenlehrplan mehr vorliegt !) und dass ihre konkrete Umsetzung im Unterricht im Zuge der Unterrichtsplanung unter Beachtung des Allgemeinen Bildungszieles sowie der Bildungs- und Lehraufgabe des betreffenden Unter-richtsfaches durch die jeweiligen Lehrerinnen und Lehrer zu erfolgen hat (vgl. dazu Schema "LP 99 auf einem Blick" bei LEHNER 2000, S. 825).

Hinsichtlich der G e s t a l t u n g des Erweiterungsbereiches (EB) heißt es im Lehrplan (in: Verordnungsblatt, III. Teil, zitiert nach S. 273f) wortwörtlich:

Der Erweiterungsbereich ist standortbezogen durch die jeweiligen Lehrerin bzw. den jeweili-gen Lehrer allein o d e r fächerübergreifend im Team (alle Heraushebungen durch den Autor Ch.S.) zu planen, allenfalls nach Maßgabe schulautonomer Lehrplanbestimmungen. Dabei sind insbesondere folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen:

  • regionale und lokale Gegebenheiten;
  • Bedürfnisse, Interessen und Begabungen der Schüler;
  • Lernfortschritte der Klasse (Bedarf an Vertiefung, Übung usw. );
  • individuelle Schwerpunkte der Lehrer;
  • materielle und personelle Ressourcen;
  • autonome Lehrplanbestimmungen.

Kern - und Erweiterungsbereich sind sowohl inhaltlich als auch organisatorisch miteinan-der vernetzt. Lernformen, Unterrichtsphasen, Schulveranstaltungen usw. sind nicht von vornherein dem einen oder anderem Bereich zugeordnet. Die Zuordnung hat sich vielmehr an den Lernzielen zu orientieren.
Sowohl Leistungsfeststellung als auch Leistungsbeurteilung beziehen sich auf beide Bereiche.

Wie man also lesen kann, und auch alle Verantwortlichen der (theoretisch planenden) oberen Ebenen der Schulverwaltung betonen2 , obliegt der Umgang mit diesem in die Autonomie der Schulen ausgelagerten Problem dem in seiner Klasse arbeitenden Lehrer, der dabei - und das möchte ich betonen - sowohl die Bildungs- und Lehraufgabe als auch die Didaktischen Grundsätze seines Faches zu berücksichtigen hat ! Dies unterstreicht auch der einzige diesbe-zügliche Satz, den man dazu ganz am Ende des Fachlehrplanteils für GW findet.

 

2. Allgemeine Aussagen zu der Thematik im Themenheft von "Erziehung und Unterricht"

In dem bereits zitierten3 Themenheft der offiziellen pädagogischen Zeitschrift "Erziehung und Unterricht" über den neuen Lehrplan - auf Grund der Autorenzusammensetzung kann man diesem Heft fast Lehrplan-Kommentarcharakter zuschreiben - meint M. WIMMER (S. 860ff), dass die Lehrplanangaben im Kernbereich zwar verbindlich sind, ihre qualitative Umsetzung und quantitative G e w i c h t u n g im Unterricht jedoch der dort tätigen Lehrkraft obliege. Sie sollte aber auch die Leitvorstellungen des Lehrplans, die Beiträge des Faches zu den Aufgaben der Schule sowie zu den Bildungsbereichen mit berücksichtigen. Wichtig seien dabei Überlegungen, Lernen als Prozess verständlich zu machen, das Vermitteln von Lern-techniken und der Aufbau von Methoden- und Teamkompetenz. Sektionschef DOBART sprach bereits bei den Vorbereitungen für den neuen Lehrplan von der Vermittlung sogenann-ter "dynamische Fähigkeiten" (1997, S. 330) und ergänzte im oben zitierten Themenheft von Erziehung und Unterricht "...es genügt nicht mehr, wenn der Einzelne Wissen reproduzieren kann; sondern er muss darüber hinaus Wissen selbstständig produzieren und generieren (DOBART 2000, S. 786). Das wird dann auch im Lehrplan-Text beim 7. Pkt. des "Allgemeinen Bildungszieles" klar hervorgestrichen "...im Sinne des exemplarischen Lernens sind möglichst zeit- und lebensnahe Themen zu wählen, durch deren Bearbeitung Einsichten, Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Methoden gewonnen werden...".

Für den mit 18-20 Stunden in der Woche Unterrichtenden wird die Umsetzung der sehr all-gemein, vage und dazu noch stereotyp4 formulierten Lehrplanangaben in begründete Quali-fikationen bzw. Unterrichtselemente (Welche Einsichten, Kenntnisse, Fähigkeiten, Methoden und Haltungen sollen an welchen exemplarischen Fällen und auf welche Art und Weise ge-wonnen werden?) sehr zeitaufwendig und (bei gewissen Aus- und Fortbildungsbildungsdefiziten) sicher auch schwierig. Daher wird einerseits vielfach auf den Stoff der Schulbücher zurückgegriffen, dessen Auswahl manchmal (trotzt Approbationsverfahren) auf konträre didaktische Auffassungen zum Lehrplan zurück geht und die auch in den Lehrerbänden fast nie begründet wird, oder andererseits in die Beliebigkeit des Unterrichtens ausgewichen. Gerade das aber sollte mit dem neuen Lehrplan verhindert werden (DOBART 2000, S. 790) !

 

3. Fachbezogene Aussagen zur Gestaltung des Kern- und Erweiterungsbereiches in der Zeitschrift GW-UNTERRICHT

Im Zusammenhang mit der laufenden Berichterstattung über die Entwicklung des GW-Lehrplans 2000 in der Zeitschrift GW-UNTERRICHT wurde mehrmals auch auf Gestaltungs-fragen des Kern- und Erweiterungsbereiches eingegangen, so vor allem in den Heften 58/1995, 62 und 64/1996, 70 und 71/1998, 73/1999 und 77/2000. Bereits im Heft 58/1995 kritisierte der Erziehungswissenschaftler POSCH bei einer Enquete allgemein die Stoffdomi-nanz in manchen Lehrplänen und erwähnte auch das Problem ihrer Legitimierung. In Heft 62/1996 tauchte dann im Rahmen des ersten Berichts über die Arbeit am neuen GW-Lehrplan wohl auf Anregung des Ministeriums ein Vorschlag auf, der zwischen Kern- und Erweiterungsbereich unterschied und letzteren auch zu konkretisieren versuchte, obwohl die Lehrplangruppe, wie sie extra betonte, einer solchen Unterscheidung (zunächst ?) ablehnend gegenüber stand. Anscheinend ist der Gedanke der standortbezogenen und schülerorientierten Planung des Erweiterungsbereiches durch die darin unterrichtenden Lehrkräfte (wie sie jetzt auf Grund des endgültigen Lehrplantextes gefordert wird) damals dort noch nicht existent gewesen. Der als Hilfe für die Unterrichtenden von "außen" gemachte Vorschlag besteht allerdings überwiegend aus einer reinen Stoffauflistung5 und tappte dadurch wieder in den didaktischen Fehler des reinen Stoffdenkens ! Es werden k e i n e Qualifikationen angegeben und begründet, es wird nicht erklärt, WARUM der Stoff in den Erweiterungsbereich verlegt wurde und nicht im Kernbereich aufscheint und man bleibt im Unklaren über seine Verknüp-fung mit den dort angegebenen Zielen. Gerade das alles aber wäre wichtig gewesen, wenn man den Vorschlag als ein zu diskutierendes Beispiel für schulautonome Planungen gebracht hätte. Nicht von anzustrebenden Qualifikationen sondern vom "Stoff-her-denken" bei Pla-nungen auszugehen, ist leider auch heute noch in unserem Fach - nach jahrzehntelanger Dis-kussion der Zielfrage und des exemplarischen Prinzips - ein von vielen unverstandenes Problem.
In Heft 64/1996 erfährt man dann, dass nach den Vorstellungen des Ministeriums der künftige Lehrplan nur den Kernbereich (KB) festlegen wird, die Gestaltung des Erweiterungsbereiches (EB) jedoch schulautonom getroffen werden soll. Gleichzeitig findet man in diesem Heft eine Matrix, welche das am Ende der 8. Schulstufe in Geographie und Wirtschaftskunde erwünschte (Lern-)ergebnis des Faches der Öffentlichkeit präsentiert. Allerdings ohne auch dieses hier näher zu begründen !

Begründungen fehlen auch bei den im gleichen Heft abgedruckten im Ganzen durchaus ak-zeptablen ZIELvorschlägen, die auf einer österreichweiten Bundestagung der GW-Pflichtschullehrer gemacht wurden. Allerdings ist man dann überrascht, wenn man liest, dass die dort versammelten Teilnehmer (darunter Pädak-Methodiker, ARGE-Leiter und Schul-buchautoren) auf einmal von Kern- und ErweiterungsSTOFF statt von Kern- und Erweite-rungsBEREICH reden. Diese Verwechslung - ob aus Nachlässigkeit oder mangelndem di-daktischen Verständnis - kann man seither immer wieder erleben. Sicher haben dazu auch die in den Texten der Fachlehrpläne fett gedruckten Abschnittsüberschriften "Lehrstoff" über den zu erreichenden Zielen beigetragen. Der traditionelle, heutigen pädagogischen Auffas-sungen nicht mehr entsprechende Begriff "Lehrstoff" musste angeblich deshalb im neuen Lehrplan weiter verwendet werden, weil die formale Gliederung des Lehrplans in einem Bun-desgesetz, das nur mit einer zwei Drittel-Mehrheit des Nationalrats verändert werden kann, seit langem festgelegt ist. Welche Auswirkungen derartige Formalismen haben, die Verwir-rungen und ungewollte aber vielleicht auch gewollte Missinterpretationen hervorrufen, sollen zwei Beispiele belegen:

a. Ich möchte Ihnen aus der Direktorenkonferenz einige Informationen mitteilen. ....Für die 1. Klassen legen die Landesschulinspektoren Wert darauf, dass Kern- und Erweiterungsstoff schriftlich festgelegt werden müssen. ...In dieser Jahreslehrstoffverteilung achten Sie bitte auch darauf, dass die in den Klassenkonferenzen vereinbarten fächerübergreifenden Themen und Projekte Platz finden. Ich ersuche Sie, die Jahresplanung (Festlegung von Kern- und Erweiterungsstoff ) bis 25. Oktober 2000 in der Direktion vorzulegen. 6

b. Auch auf einer im Internet seit Juni 2000 unter http://gw.eduhi.at/lehrpläne abrufbaren In-formationsseite, die im Wesentlichen den neuen GW-Lehrplantext der 1. Klasse wiedergibt, findet man die folgende, von einem Mitglied des Lehrplanteams unterzeichnete Information:

"Empfehlungen der ARGE-Leiter für den Kernstoff der 1. Klasse. Ausgangspunkt sind insge-samt 54 Unterrichtseinheiten - davon 2/3 Kernstoff und 1/3 Erweiterungsstoff".

Vielleicht meint mancher, dass dieses Kleben an Begriffen kleinlich ist. Solange aber bei vie-len Vertretern unseres Faches das alte "Stoffdenken" noch immer dominiert, sollte man di-daktische Begriffe richtig und nicht missverständlich verwenden.

Wir haben gesehen, dass bis jetzt weder vom Ministerium her noch in der Zeitschrift GW-UNTERRICHT und soweit bekannt geworden auch nicht von den GW- bzw. GWK-Arbeitsgemeinschaften konkrete Hilfestellungen gekommen sind, welche die Kolleginnen und Kollegen bei der schulautonomen Erstellung des Erweiterungsbereiches, für den laut Lehrplan ein Drittel der Jahrestunden zur Verfügung stehen, unterstützen könnten. Wie schaut es dies-bezüglich in den Lehrerbegleitheften der Schulbücher aus?

 

4. Welche Hilfestellungen bieten die Schulbücher sowie ihre Lehrerbegleithefte an?

Diese Fragestellung ist deshalb besonders interessant, weil die Schulbehörde in diesem Zu-sammenhang - außer einigen allgemeinen Hinweisen - bisher keine konkreten Vorstellungen dazu vorgelegt hat. Im Folgenden werden daher drei auf den Lehrplan 2000 bezogene Geo-graphie und Wirtschaftskunde-Schulbücher und die dazu bereits vorliegenden Lehrerbegleit-hefte bzw. -bände auf die oben gestellte Frage hin untersucht. Die Bücher sind im Literatur-verzeichnis angegeben. Weil es in meinem Beitrag aber nicht um Buchkritiken geht, sondern mit den aus den Schulbüchern und Lehrerbegleitheften entnommenen Beispielen nur die grundsätzliche fachdidaktische Problematik "Gestaltung des Erweiterungsbereiches" illust-riert werden soll, werden die folgenden Beispiele den Büchern nicht durch Zitate zugeordnet.

4.1. Dieses GW-Schulbuch gibt bisher als Einziges für jedes Hauptkapitel (ihre Bezeichnun-gen sind mit den Überschriften der Themenkreise des Lehrplans ident) gekennzeichnete Er-weiterungsinhalte in Form von Text, Bildern, Diagrammen und einfachen Karten an. Sie schließen an die Inhalte des Kernbereichs an und sollen sie ergänzen bzw. vertiefen. Eigene Symbole kennzeichnen diese Seiten für die Schüler. Die Lehrkräfte finden dann im Begleitheft eine zeitliche Aufteilung der Inhalte des Kern- und Erweiterungsbereiches über das Schuljahr (Jahresplanung), grobe Intentionshinweise zu den Inhalten der Hauptkapitel aus der Sicht der Autoren (aber keine schülerorientierten Zielangaben7 ) sowie einfache methodische Hinweise. Die Autoren betonen zwar, dass es sich, weil der EB - laut Lehrplan - standortbe-zogen und von den Unterrichtenden her zu planen ist, bei den von ihnen gemachten Vorschlägen nur um "Anregungen" handle und das im Buch dargebotene Material unbedingt er-gänzt werden sollte. Ob dem in der Schulwirklichkeit jedoch entsprochen wird, müsste über-prüft werden. Punktuelle Erkundungen zeigten jedenfalls, dass die Vorschläge ohne Modifi-zierungen von den Lehrkräften einfach übernommen wurden, ohne sich an die im Lehrplan angeführten Auswahlkriterien zu halten.

Bei der näheren Betrachtung der im Lehrerheft vorgeschlagenen Inhaltsaufteilung des Kern- und Erweiterungsbereiches fällt auf, dass in diesem GW-Buch praktisch a l l e mit kritischer Sicht verbundenen Thematiken in den Erweiterungsbereich abgeschoben wurden ! Einige Beispiele sollen das illustrieren: In der 5. Schulstufe wird im KB der Tropische Regenwald behandelt seine Charakteristik sowie die Lebens- und Wirtschaftsweise der dort wohnenden Menschen; seine Zerstörung durch rücksichtslosen Raubbau findet man jedoch erst im EB. Oder: KB "Gefahr!" (Lawinen/Erdbeben/Vermurungen/Vulkane) mit dem EB "Der Mensch trägt Verantwortung"; oder: KB "brennende Steine" mit dem EB "Umweltverschmutzung durch Kohle" u.a.m. In der 6. Schulstufe schlagen die Autoren vor, sich im Kernbereich mit Funktionen und Formen des Handels zu beschäftigen; die Auseinandersetzung mit den "Tricks der Supermärkte" und Tipps für überlegtes Einkaufen verlegen sie dann in den EB.

Oder: Beim Themenkreis "Gütererzeugung in gewerblichen und industriellen Betrieben" werden die Umweltprobleme der Industrie in den EB verlegt, ebenso beim KB-Kapitel "Über die Alpen" mit dem EB "Umweltbelastung durch Verkehr". Wenn man im zweiten Semester infolge Stundenausfall (Donnerstagstunden, Sportwochen etc.) fürchtet, nicht mehr alle Kern-bereichsthemen noch unterzubringen, werden manche Lehrkräfte wahrscheinlich auf diese Erweiterungsthematiken verzichten. Auch "schwächere Lerner" werden eventuell von diesen Thematiken nichts erfahren, aus Zeitgründen oder weil man vielleicht glaubt, dass "sie es nicht verstehen" oder weil man bei ihnen das "Politischbildende" nicht für opportun hält. Vielleicht hängt das alles aber auch damit zusammen, dass der noch im Lehrplan 1985/86 aufscheinende Begriff "Politische Bildung" im GW-Lehrplan 2000 nicht mehr erwähnt wird (vgl. in VIRTUELLER FACHDIDAKTIKBIBLIOTHEK) !

4.2: Das zweite hier zur Illustration unserer eingangs gestellten Frage herangezogene und teilweise methodisch (für die Hauptschule) geschickter arrangierte Schulbuch, besitzt keine eigens für den Kern- und den Erweiterungsbereich markierte Seiten, bietet jedoch im Begleit-heft jeweils in eine Jahresplanungsübersicht Vorschläge dazu an. Sie sind für beide Bereiche als Inhalte und als Grobziele formuliert. Materialien für den EB findet der Lehrer sowohl im Schülerbuch als auch zusätzlich noch im Lehrerbegleitheft, so dass ausgewählt werden kann. Sie sind im allgemeinen mit dem Inhalt des Kernbereichs verschränkt. Z.B. zum KB "Oasen" der EB "Flussoase Nil" (als Vorleistung von GW für GS in der 2. Klasse) u.a.m. Begründun-gen allgemein für die Auswahlkriterien gibt es, übrigens so wie im Buch (1), ebenfalls keine ! Mehrmals wird der EB unter Heranziehung der im Lehrerbegleitheft angebotenen stummen Kopiervorlagen nur für simple Topographieübungen ausgenützt. Die Verschränkung mit dem Thema des KB ist dann oft sehr "gezwungen" (z.B.: 27 topographische Bezeichnungen in Ostasien im EB zu der im KB behandelten Stadt Peking). Man wird aber sicher zu diesen Kopiervorlagen8 greifen, weil sie der unterrichtenden Lehrkraft zusätzliche Arbeit abnehmen. Der 2. Klasse-Band bietet einige elegantere Lösungen an, wie z.B. KB "Supermarkt" mit EB "Einkaufszentrum" wobei auch Vorschläge zu "untersuche und vergleiche" angeschnitten werden. Bedenklich (weil den Intentionen des Lehrplans widersprechend !) ist es, wenn Lehr-kräfte den (länderkundlichen) Anhang im Band 3 dann im EB umsetzen und das darin ange-botene zum Teil fehlerhafte Material einfach übernehmen. Um nicht missverstanden zu wer-den: Natürlich kann etwa in Form einer Projektarbeit e i n Bundesland auf dieser Schulstufe im EB genauer untersucht werden, wobei neben dem "know what" dann aber das "know how" betont werden sollte und Schüler lernen sollten, wo und wie man (z.B. mit Hilfe ver-schiedenster Medien) räumliche und ökonomische Informationen, die ihre gegenwärtige oder zukünftige Lebenswelt betreffen, einholt und kritisch verarbeitet.

4.3: Auch das Dritte hier zur Illustration unserer Eingangsfrage herangezogene Schulbuch differenziert nicht extra zwischen Kern- und Erweiterungsbereich. Wohl aber gibt es dazu zahlreiche Hinweise und extra bezeichnete Kopiervorlagen in den ab 2000 als Nachdruck oder neu herauskommenden Lehrerbänden9. Dort heißt es: "Da der Erweiterungsbereich standortbezogen und schulautonom festgelegt werden soll, ist es nicht zielführend, ihn im Schulbuch anzubieten. Als Hilfestellungen für Lehrerinnen und Lehrer haben wir uns ent entschlossen, einige Beispiele für den Erweiterungsbereich in den Lehrerband aufzunehmen. Sie haben Vorschlagscharakter und können durch die begleitenden Kopiervorlagen ohne großen Zeitaufwand im Unterricht eingesetzt werden." Im Weiteren findet man in den Lehrerbänden dann eine Auflistung möglicher Themen für den EB und zu jedem Themenkreis des Lehrplans ein fertig ausgearbeitetes Beispiel als Kopiervorlage. Da es sich ohne hohen Arbeitsaufwand im Unterricht einsetzen lässt, werden viele solche "exogenen Vorgaben" bei ihrem Unterricht im Erweiterungsbereich verwenden - noch dazu, wo doch die Lösungen der dort gestellten Aufgaben auch immer angegeben werden. Einige Beispiele aus Band 2 für die 6. Schulstufe: Zum Themenkreis "Leben in Städten und Ballungsräumen" schlagen die Auto-ren für den Erweiterungsbereich 6 mögliche Beispiele vor und bringen für "Wir erkunden eine Geschäftsstraße" sowie "Mitten in Frankreich - Menschen wandern ab" methodische Hinweise und Kopiervorlagen. Das erste Beispiel lässt sich im Gegensatz zum zweiten für eine Schule im städtischen Raum gut in jede standortbezogene autonome Planung einfügen, weil es allgemein gehalten ist und die Methode vorgibt. Beim zweiten muss man sich aller-dings schon fragen, warum man das Problem der Abwanderung aus peripheren Räumen in zentrale aber nicht an einem den Schülern "geistig und räumlich näher liegenden" Gebiet (z. B. dem heimatlichen Bundesland) erarbeiten lässt. Auch kann man die Frage stellen, ob es genügt, nur um die Topographie Frankreichs (hoffentlich wissen alle, wie man die 27 auf-scheinenden Namen richtig ausspricht) durchzunehmen, dieses in den Themenkreis "Leben in Städten und Ballungsräumen" einzubauen.

Interessant ist in diesem Band zur 6. Schulstufe auch (weil - wie schon einmal erwähnt - wie im ersten Fallbeispiel auch - ein Mitglied der Lehrplankommission als Mitautor mitwirkte), dass darin die Behandlung des Gradnetzes für den Erweiterungsbereich vorgeschlagen wird. Hängt diese Entscheidung vielleicht damit zusammen, dass die Beschäftigung mit dem Gradnetz nach Auslegung der Autoren keine grundlegende Aufgabe des GW-Unterrichts ist oder ist sie auf das Fehlen dieses Begriffes im GW-Lehrplan 2000 zurückzuführen? Dort heißt es zwar (nur) in der 5. Schulstufe beim Themenkreis "Ein Blick auf die Erde" Erwerben grundlegender Informationen über die Erde mit Globus, Karten, Atlas und Bildern. Die Auto-ren aller drei in diesem Beitrag angeführten Schulbücher verlegen die Erarbeitung des Gradnetzes jedoch alle in die 6. Schulstufe10 , wahrscheinlich, weil sie der Meinung sind, dass den Schülern noch die mathematischen Grundkenntnisse dazu fehlen11 . Ein Autorenteam teilt dabei die Erarbeitung des Gradnetzes dem Kernbereich zu, ein anderes nur im Begleitheft dem Kernbereich, im Schülerbuch dem Erweiterungsbereich. Diese drei Beispiele zeigen, wie unterschiedlich deutbar der GW-Lehrplan 2000 ist und wie willkürlich (weil ohne mitgeliefer-ter Begründungen) die Zuordnungen erfolgen. Dazu gäbe es noch eine Reihe weiterer Beispiele. Für den Aufbau und das Erwerben komplexerer geographischer und ökonomischer Kompetenzen sind das nicht gerade förderliche Voraussetzung. Wir sollten uns daher mehr mit der zentralen didaktischen Fragen beschäftigen, "WARUM" unterrichten wir das eigent-lich? WELCHE Qualifikationen bzw. Kompetenzen sollen die Schüler dabei erwerben? Und helfen ihnen diese bei der Lebensbewältigung?

5. Resümee

Beim Nachgehen der Frage, welche Hilfestellungen die tagtäglich in der Klasse stehenden Kolleginnen und Kollegen für die Konkretisierung des nach LP-Forderung standortbezoge-nen, schülerorientierten und schulautonom zu planenden Erweiterungsbereiches vorfin-den, kamen wir zu einem ziemlich unbefriedigenden Ergebnis:

5.1) Dass österreichweit konzipierte Schulbücher diese Funktion nicht zu übernehmen ver-mögen, müsste eigentlich jedem aufmerksamen Leser des Lehrplans klar sein ! Sie können nicht die vom Lehrplan geforderten schulspezifische Themen für alle Standorte und Schüler anbieten (hier müssten LandesARGEs und Pädagogische Akademien Vorreiterrollen für die Entwicklung regionsspezifischer Materialienpakete endlich einmal übernehmen). Trotzdem wird wahrscheinlich sehr oft auf die vorgefertigten Unterlagen in den Büchern zurückgegrif-fen werden, weil man sich damit Zeit und Arbeit erspart.

Schulbuchbegleithefte bzw. Lehrerbände hätten mehr Möglichkeiten zur Hilfestellung und versuchen dies auch z.T. (Interessant ist, dass das einzige - hier nicht näher behandelte -Unterstufenbuch mit einem Internetanhang bei www.hoelzel.at - gerade diese flexibelste aller Möglichkeiten bisher überhaupt nicht genutzt hat ! - etwas in diese Richtung bietet uns das Service von http://gw.eduhi.at/lehrplan/lp99.htm , wo versucht wird passgenau zu den LP-Abschnitten (z.T. interaktive) Arbeitsblätter und passgenaue Links anzubieten.)

Allerdings findet man auch in den neuen Büchern leider meist nur Vorschläge von bloßen Stoffinhalten oder fertiger - fachdidaktisch außerdem manchmal auch noch fragliche - Unterrichtsbeispiele zum Nachmachen. Wie man als Lehrer bei der Konkretisierung des Erweite-rungsbereichs vorgehen soll oder könnte, wird nirgends näher erklärt. Dass man dabei von Qualifikationen auszugehen hat (siehe zum Begriff "Exemplarisch" u.a. in der VIRTUELLEN FACHDIDAKTIKBIBLIOTHEK), wobei besonders die Weiterentwicklung von "skills" zu forcieren wäre - denn diese sind für die selbstständige Auseinandersetzung mit dem Lerngut die notwendige Voraussetzung; dass man weiters versuchen sollte, die Qualifi-kationen, welche die Schüler erwerben sollen und die Inhalte, die man dazu heranzieht, zu begründen und damit für Schüler und Eltern offen zu legen, liest man (leider) nirgends. Nur dadurch wäre aber die Gefahr des "Beliebigkeitsunterrichts" bzw. die Ausklammerung unangenehmer Lernfelder (im Bereich der Politische Bildung ?) im Erweiterungsbereich zu entschärfen.

5.3) Völlig im Stich gelassen fühlen wir Lehrer uns bei Fragen, auf die teilweise schon sei-nerzeit THONHAUSER (2000, S. 845ff) hingewiesen hat: Welchen Ausschlag geben Leis-tungen im Kernbereich und im Erweiterungsbereich bei der Leistungsbeurteilung ? Gilt die Beschränkung des KB auf zwei Drittel der Unterrichtszeit auch für leistungsschwächere Schüler? Darf das Lerngut des EB über mehrere Schulstufen aufbauend angeboten werden ? Wie ist die Begründung der Auswahl des (in den Büchern angebotenen) Lerngutes für den KB und des autonom geplanten für den EB dann, wenn zum Beispiel in der 7. Schulstufe das Un-terrichtsfach Geographie und Wirtschaftskunde schulautonom (was der LP zulässt) auf eine Wochenstunde reduziert wurde ? In der 7. Schulstufe enthält der verbindliche Kernbereich laut Lehrplan die meisten, nämlich 17 Zielstellungen ! Wird die Rechnung des Ministeriums, via zentraler Kernbereichsvorschreibungen einheitliche geographisch-wirtschaftskundliche Grundstandards in den Schulen der 10-14jährigen zu erreichen, so überhaupt aufgehen ? Bei den sehr weit interpretierbaren Zielangaben des Lehrplans 2000 und den oft sehr unterschied-lichen fachdidaktischen Grundpositionen der Schulbuchautoren und Lehrer kann man diese Frage derzeit wirklich nicht mit "JA" beantworten! Hier liegen daher wichtige Aufgabenfel-der einer verstärkten GW-Lehrerfortbildung und der hoffentlich bald eintretenden besseren fachdidaktischen GW-Lehrerausbildung an den Universitäten12 .

5.4) Zuletzt möchte ich daran erinnern, dass uns allen aber klar sein muss, die Gestaltung des Erweiterungsbereiches bedeutet - wenn man den Lehrplanforderungen (siehe Kasten auf der ersten Seite dieses Beitrages) wirklich nachkommen will und nicht bloß "Fremdproduziertes abkupfert - für die daran Beteiligten Lehrer(kollegien) einen beträchtlichen zusätzlichen Zeitaufwand ! Hoffentlich erkennt das die unmittelbare Dienstbehörde (auch im primär die Lehrer-Basis treffenden Einsparungsjahr 2001 !) und motiviert diejenigen in ihrem Lehr-körper, die sich dabei ernsthaft bemühen und nicht bloß vorgegebene "Stofflisten" ablichten bzw. fertig Unterrichtsvorschläge kritik- und ziellos in den Erweiterungsbereich übernehmen. Für die Realisierung von Reformen reichen Anordnungen "von oben" nicht aus, entscheidend ist, ob die tatsächlich in den Klassen Unterrichtenden sie verstehen und willens (motiviert !) sowie fähig (gemacht worden) sind, sie auch durchzuführen. Sonst bleiben selbst vernünftige Top-down-Anordnungen nur Papier (vgl. dazu auch bei A. KERN auf S. 922f).

6. Zitierte Literatur und herangezogene GW-Schulbücher

DOBART A. (1997): Schule macht Lehrplan. Grundsätzliches zum Lehrplan 99. In: Erzie-hung und Unterricht (Hg. ÖBV Wien), H. 4, S.324-333

DOBART A. (2000): Lehrplan 99 -Schule vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Ent-wicklung. In: Erziehung & Unterricht H. 7-8, S.785-793

KERN A. (2000): Perspektiven und Ausblick: Künftige Aufgaben und Herausforderungen in einem Schulsystem mit (teil)autonomen Schulen. A.a.O. S. 919-933

LEHNER U. (2000): Umsetzungsarbeit zum Lehrplan 99. A.a.O. S. 823-831

THONHAUSER J. (2000): Neue Lehrpläne. Versuch einer Beurteilung unter erziehungswis-senschaftlichem Aspekt. A.a.O. S.841-851

WIMMER M. (2000) Neue Lehrpläne - neue Schule ? A.a.O. S. 859-871

VIRTUELLE FACHDIDAKTIKBIBLIOTHEK (Hg. Ch. Sitte, 2001), unter: www.univie.ac.at/geographie/ifgr/stzw/lehramt/fachdidaktik/home/Virtuell/VIRTUELFD.HTM

VIRTUELLE PLATTFORM für die Umsetzung des Lehrplans (BMUK), unter:
http://www. gemeinsamlernen.at/

SCHULBÜCHER die zitiert wurden (Ausgaben 1999 und 2000):

  • Durchblick (Westermann Wien), Band 1 u. 2, Hg. H.Wohlschlägl, M. Hofmann-Schneller u.a.
  • GW-Module (Ed. Hölzel Wien), Band 1 u. 2, G. Atschko, A. Schinko
  • Hölzel-GW, Faszination Erde (Hölzel) Wien, Band 1, 2 und 3. K. Zeugner
Fußnoten:

BGBlatt, Jg. 2000, Teil II, Ausgegeben am 11. Mai 2000, 133. Verordnung für die allgemeinbildenden höheren Schulen, 134. Verordnung für die Hauptschulen. (bzw. Verordnungsblatt BMUK 71. bzw.72. Vdg, v. 1.7.2000) Virtuell u.a. abrufbar unter www.bildungsservice.at/aktuelles/lehrplan.htm bzw. www.ris.bka.gv.at/auswahl/

Vgl. dazu vielfach im Themenheft "Der neue Lehrplan..." der Zeitschrift Erziehung und Unterricht 7-8/2000.

Vgl. dazu vielfach im Themenheft "Der neue Lehrplan..." der Zeitschrift Erziehung und Unterricht 7-8/2000.

Rund drei Viertel der Verhaltenskomponenten beziehen sich auf "Erkennen" und "Erfassen" ! "Vergleichen" sollen Schüler erst in der 2.Klasse; "Dinge "nützen" oder "erarbeiten" in der 3. Klasse; "Auswerten", "untersu-chen", "bewerten" kommen nur in der 4. Klasse vor. - Vermisst werden u.a. Komponenten wie " Analysieren", "Erklären", "Darstellen", "Anwenden", "Fähigsein", "Begründen", "Überprüfen", "Hinterfragen", "kritisch Reflektieren" etc.

Beispielsweise liest man u.a.: "Biologischer Landbau", "Alternative Energien", "Verbraucherpreisindex", "Leistungsbilanz", "Integrationsbestrebungen". Es ist eine Ausrede, wenn man das Fehlen von Verhaltens-komponenten damit erklärt, dass diese bei gleichen Inhaltskomponenten je nach der Formulierung sehr unter-schiedliche Lernleistungen ausdrücken und daher nur in der speziellen Unterrichts- bzw. Klassensituation einge-setzt werden sollen. Wer so argumentiert, verwechselt die verschiedenen Zielebenen! Er übersieht, dass auf einer mittleren Zielebene, wie sie in Jahresplanungen im allgemeinen vorkommt, das angestrebte Endverhalten nicht operationalisiert, sondern nur soweit beschrieben wird, dass Lehrer wie Schüler sich eine konkrete Vorstel-lung machen können, was und wozu an einem Stoffinhalt gelernt werden soll. Bei den später zugeordneten Feinzielen kann man dann differenzieren.

Aus dem "Lehrerlaufer Nr. 2" eines Wiener Gymnasiums vom 29. 09. 2000.

Wobei manche dieser Karten falsche Raumvorstellungen vermitteln, beispielsweise liegt auf einer Karte London nördlicher als Berlin bzw. auf einer anderen Peking südlicher als Tokio.

Es ist interessant, dass im ersten Lehrerband, der zum Schulbuch der 1. Klasse bereits 1999 herauskam, auf die Problematik Kernbereich-Erweiterungsbereich nicht näher eingegangen wurde, obwohl auch in diesem Schul-buch ein Mitglied der Lehrplankommission Mitautor ist. Man findet in diesem Lehrerband lediglich bei den Erläuterungen zu den einzelnen Unterrichtseinheiten manchmal kurze Textstellen (einmal auch eine Grafik) mit den Überschriften "Zusatzinformation" bzw. "Zusatzmaterial" - an einer Stelle taucht auch der Begriff "Erwei-terungsstoff" auf. Vermutlich handelt es sich aber dabei immer nur um ein knappes Zusatzangebot zum Kernbereich.

Etwas sonderbar ist, dass ein Autorenteam dann dort vorschlägt, die Zeitzonen vor der Erarbeitung des Grad-netzes zu behandeln.

Im Mathematik-Lehrplan der 5. Schulstufe heißt es (für den Kernbereich) bei "Arbeiten mit Figuren und Kör-pern" Gradeinteilung von Winkeln kennen. Man sollte sich daher mit der Mathematiklehrkraft besprechen.

So weit schon neue Studienordnungen vorliegen bzw. in Kraft getreten sind, geben sie Anlass zu Optimismus, weil die Fachdidaktik in ihnen wesentlich aufgestockt wurde und nicht mehr nur zu den Randveranstaltungen zählt. Siehe GW-UNTERRICHT Nr.76/1999 und Nr. 82/2001.

 

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Datum: 09.04.2002
Autor: Zentrum für innovative Pädagogik, Christian Sitte